Koblenz
Nouveaux Réalistes

Jean Tinguely hatte keine Ausstellung in Koblenz, was seine persönliche Geschichte mit der Stadt gering ausfallen lässt. Die Sammlung des Ludwig Museums allerdings bietet Gelegenheit, das künstlerische Umfeld, in dem sich Jean Tinguely bewegte, mindestens aus einer französischen Perspektive zu beleuchten. Die Kunst, die hier präsentiert wird, entstammt der Sammlung von Peter und Irene Ludwig, die Werke wurden im Hinblick auf eine Ausrichtung auf die französische Kunst nach 1945 ausgewählt. Neben einigen Werken der klassischen Moderne von Künstlern wie Pablo Picasso, Serge Poliakoff oder Jean Dubuffet (die beide das Kunstleben in Paris und Frankreich entscheidend geprägt haben) sowie von Wols, dem deutschen Emigranten, dessen künstlerisches Werk ausschliesslich in Frankreich entstanden ist, sind es vor allem die Künstler*innen der Nouveaux Réalistes, des Fluxus, von Supports/Surface sowie der Figuration Libre, die vertreten sind. Daneben gibt es Einzelpositionen wie den Schubladenschrank von Christian Boltanski von 1972, der mit seiner Suche nach seiner individuellen Geschichte immer auch diejenige des 20. Jahrhunderts thematisiert.

Die Nouveaux Réalistes sind im Ludwig Museum Koblenz sehr prominent vertreten – bereits vor dem Eingang grüsst der Daumen von César – Le pouce, von 1965. Werke von Martial Raysse, Arman und Niki de Saint Phalle und natürlich Jean Tinguely stehen neben der Stofffigur Dame oder Bella, 1967 von Eva Aeppli. Sie gehörte nicht zu den Nouveaux Réalistes, war aber durch ihr Leben mit Tinguely in der Impasse Ronsin bis 1960 und ihren Freundschaften zu vielen Künstler*innen mit diesen eng verbunden. Und ganz wichtig gehörte sie immer zum inneren Zirkel von Jean Tinguelys künstlerischen und freundschaftlichen Netzwerk, diese Verbindung riss nie ab. Viele der Künstler*innen der Nouveaux Réalistes sind auch in der Edition MAT (Multiplication d’Art Transformable) vertreten, die von 1959 bis 1965 von Daniel Spoerri und später von ihm mit Karl Gerstner entwickelt wurde. Der Künstler*innenkreis geht aber weit darüber hinaus, bis zu Vorbildern wie Man Ray, Josef Albers und Marcel Duchamp und bei den Zeitgenossen wurde der Horizont bei der zweiten Edition 1964 weit geöffnet – immer bliebe der Akzent aber auf der Idee des veränderbaren Kunstwerks in Serie, und immer blieb die Edition MAT eine Unternehmung, die Künstler*innen aus ganz Europa vereinigte. Die Sammlung des Ludwig Museums umfasst mit Tinguelys Freund Ben Vautier, der zusammen mit Wolf Vostell den Fluxus repräsentiert, mit einer bedeutenden Sammlung der Künstler von Supports/Surface wie Daniel Buren oder Louis Cane, die sich im Frankreich Ende der Sechziger Jahre auch als Gegenentwurf zu den Nouveaux Réalistes verstanden sowie mit Robert Combas und Hervé di Rosa, den Malern der Figuration Libre, die in den Achtziger Jahren die Kunstwelt provozierten und in Frankreich das waren, was in Deutschland die Jungen Wilden oder in den USA etwa Jean Michel Basquiat oder Keith Haring, Künstler die allesamt versuchten, aus einer starr gewordenen Kunstszene auzubrechen. Tinguely hatte sich früh für Keith Haring interessiert und stand mit dem jungen Künstler in regelmässigem Kontakt.